Eva Grubinger

»Malady of the Infinite«

 

Belvedere 21, Wien

22. November 2019 – 13. April 2020

 

Viele kennen Eva Grubinger vielleicht persönlich oder haben schon Geschichten über sie gehört. Ich fürchte, ich muss bestätigen: Sie sind alle wahr! 2012 habe ich im Belvedere das erste Mal mit ihr zusammengearbeitet. Und Eva Grubinger hat mir gleich ein Ei gelegt. Ein Ei in Kugelform. Eine Weihnachtsinstallation in Form einer schwarzen Bombe, die in der Sala Terrena im Oberen Belvedere installiert wurde, die man auch als Weihnachtskugel interpretieren konnte. Und 2019 hat Eva Grubinger es erneut geschafft, Objekte mit Sprengkraft ins Museum zu schmuggeln.
Das künstlerische Markenzeichen von Eva Grubinger ist die Verfremdung und Aktivierung von Objekten. Sie erreicht dies mittels Vergrößerung, Materialänderung, Reduktion oder Dekontextualisierung. Mit diesen bildhauerischen Stilmitteln schafft die Künstlerin auch hier eine skulpturale Szenerie, die poetische Leichtigkeit mit realer politischer Brisanz verbindet. „Malady of the Infinite“, das „Leiden am Unendlichen” ist der Titel ihrer Ausstellung. Sie besteht im Wesentlichen aus 4 Objekten. Eines davon ragt in die Luft: das Cockpit-Chassis einer Superyacht, deren Rumpf bereits unter Wasser steht. Das Chassis dominiert die Ausstellungshalle. Doch es wird von drei anderen, viel kleineren Objekten in Schach gehalten: Die Yacht ist von Seeminen umgeben, die sich aus dem Boden erheben, als würden sie an der Meeresoberfläche treiben.
Das Museum ist ein öffentlicher Raum - genauso wie das Setting des Meeres, das in Grubingers Ausstellung inszeniert wird. Die Ozeane unterliegen jedoch ihren eigenen Regeln. Der öffentliche Raum, den sie bilden, ist ein seltsamer Ort. Welche Assoziationen ruft er in Ihnen hervor? Wahrscheinlich denken sie an Eroberung, Kolonialismus, Freiheit und Autonomie, an die Sehnsucht nach dem Unbekannten und den Möglichkeiten. Auf hoher See finden nicht nur Freizeitaktivitäten wie Segeln und Reisen statt, sondern auch Piraterie, Fischfang und Menschenhandel. Vielleicht denken sie auch daran, dass dieser öffentliche, internationale Raum ein Ort ist, der nach wie vor von Männern dominiert wird und die Globalisierung grundlegend ermöglicht – aber auch ein Ort, wo sich aufgrund fehlender nationaler Gesetze Utopien und Dystopien umsetzen lassen könnten, wie es schon von libertären Köpfen im Silicon Valley angedacht wurde.
Das Meer, die Yacht und die Minen: Die Szenerie ist also gefährlich. Die Ausstellung ist aber auch eine künstlerische Reflexion einer soziopolitischen und psychosozialen Stimmung, die als Anomie bezeichnet wird. Der Begriff stammt aus der Soziologie. Er beschreibt eine Situation, in der gesellschaftliche Normen schwach ausgeprägt sind oder zur Gänze fehlen und den Individuen keine moralische Orientierung bieten. Die Dominanz des globalen Kapitalismus in Verbindung mit dem Neoliberalismus erzeugt solch eine Atmosphäre sozialer Unverbundenheit. Und die zieht sich als Gefühl durch alle gesellschaftlichen Ebenen. Und diese soziale Unverbundenheit ist eng gekoppelt an die kollektive Annahme eines uneingeschränkten Möglichkeitshorizonts, der im Zuge der Moderne allen Individuen eine freie Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung verspricht. Diese Einstellung wird von einem Phänomen begleitet, das der Soziologe Émile Durkheim um 1900 als "das Leiden am Unendlichen" bezeichnete: die unbegrenzten Möglichkeiten führen zu einem unbegrenzten Begehren, das das Imaginäre befällt und materiell nicht zu befriedigen ist.
Dieses „Leiden am Unendlichen“ findet in Grubingers Ausstellung ihren Ausdruck in einem Luxusobjekt, das nicht funktioniert und keine Befriedigung bietet. Eine Jacht dient dem Vergnügen, vermittelt ein Gefühl der Souveränität über die Natur und von sozialer Autarkie, während sie gleichzeitig Macht und Dominanz symbolisiert. Als kleiner, schwimmender Staat in sich selbst ist eine Jacht auf Autonomie ausgerichtet, ohne mit einer breiteren Öffentlichkeit konfrontiert zu sein. Dennoch suggeriert die Ausstellung, dass dieses Symbol eines fortgeschrittenen Kapitalismus nicht gegen Risiken und Gefahren gefeit ist – nämlich gegen die buchstäbliche Unterminierung durch diejenigen, die nichts mehr zu verlieren haben.
Denn nicht nur die Superreichen kranken am Unendlichen. Auch die Mittelschicht ist der Wunschmaschinerie des Neoliberalismus erlegen. Sie befindet sie sich in einer existenziellen Krise, weil sie von der aus ihm resultierenden wirtschaftlichen Ungerechtigkeit ausgehöhlt wird. Und das Prekariat ist zunehmend frustrierter durch eine immer offensichtlicher werdende Ungleichheit, was zu einer Abkehr von ethischem Verhalten hin zu Devianz führt, also einem Handeln abseits gesellschaftlicher Übereinkünfte. Wenn Armut und Instabilität keinen anderen Handlungsspielraum ermöglichen, wird der Lebensunterhalt durch kriminelle Aktivitäten gesichert, und dieses Verhalten wird über Generationen hinweg weitergegeben, bis es zur Norm wird. Das manifestiert sich in der Ausstellung in Seeminen, die der Yacht gegenübergestellt sind. Als kostengünstiges und effizientes Mittel der asymmetrischen Kriegsführung sind sie eine moderne Entsprechung der Schleuder, die David gegen Goliath eingesetzt hat.
Mit dem Meer geht es um einen aufgeladenen Ort. Er ist widersprüchlich und ein Spiegel gegenwärtiger Verhältnisse. Vor dieser imaginären Kulisse verdichtet Eva Grubinger unterschiedliche thematische Ebenen zu einem Ensemble, das eine Angespanntheit vermittelt während es eine düstere Vorahnung hervorruft. Grubinger inszeniert einen Konflikt, in dem sich Macht und Ohnmacht gegenüberstehen – sie hat mit der Ausstellung wieder eine Mischung angerührt, die äußerst explosiv scheint. Denn mit „Malady of the Infinite“ entwirft die Künstlerin eine Parabel auf unsere angespannte Gegenwart, in der wir alle nur um Haaresbreite vom Untergang entfernt scheinen.

 

Eva Grubinger (geb. 1970 in Salzburg) studierte von 1989 bis 1995 an der Hochschule der Künste Berlin (heute: UdK – Universität der Künste) bei VALIE EXPORT und Katharina Sieverding. Seit Mitte der 1990er-Jahre sind Grubingers Arbeiten international in Museums- und Galerienausstellungen vertreten. So hatte sie Einzelausstellungen in namhaften Institutionen wie zum Beispiel Bloomberg SPACE, London (2016), Institute of Contemporary Arts, London (2015), Belvedere, Wien (2012), ZKM – Museum für Neue Kunst, Karlsruhe (2011), Museum der Moderne, Salzburg (2009), Schirn Kunsthalle, Frankfurt am Main (2007), Berlinische Galerie (2004), BALTIC Centre for Contemporary Art, Gateshead (2003), Kiasma Museum, Helsinki (2001). Zudem war sie an zahlreichen Gruppenausstellungen im In- und Ausland beteiligt, etwa im Neuen Museum, Nürnberg (2019), bei der Busan Biennale (2018), in der Kunsthalle Wien (2014, 2015), im Witte de With – Center for Contemporary Art, Rotterdam (2014), bei der Marrakech Biennale (2012), im Musée d’art contemporain de Bordeaux (2011), in der Akademie der Künste, Berlin (2010), im Krannert Art Museum, Champaign, Illinois (2009), in der Kunsthalle Nürnberg (2009), im Taipei Fine Arts Museum (2008), in den Kunst-Werken, Berlin (2005), oder in den Deichtorhallen Hamburg (2002). Die Künstlerin lebt und arbeitet in Berlin.

 

Katalog zur Ausstellung:
Eva Grubinger – Malady of the Infinite
Herausgegeben von Stella Rollig und Severin Dünser
Mit Texten von Severin Dünser, Chus Martínez, Stella Rollig und Jan Verwoert
Grafikdesign von Heimann + Schwantes, Berlin
Deutsch/Englisch
Schweizer Hardcover, 23 × 30 cm, 176 Seiten, ca. 150 Abbildungen
Verlag der Buchhandlung Walther König, London, 2019
ISBN 978-3-903114-95-1