Henrike Naumann

»Das Reich«

 

Belvedere 21, Wien

26. September 2019 – 12. Januar 2020

 

Henrike Naumann wuchs in Zwickau auf, als das politische Ende der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) nahte und der Staat schließlich in einem wiedervereinten Deutschland aufging. Die Erfahrungen ihrer Jugend zwischen Hedonismus, Konsumkultur und erstarkendem Rechtsradikalismus verarbeitete sie in mehreren Ausstellungen zu Installationen. Als Künstlerin interessiert sie sich für die Formensprache, die diese Extreme im Alltag der Bevölkerung hervorgebracht haben. Inwiefern spiegeln Möbel und Gegenstände Haltung und Geschichte wider? In alternativen Geschichtsszenarien untersucht Naumann die Wechselwirkungen zwischen Ästhetik und Ideologie und macht sie in begehbaren Raumsituationen erfahrbar.

 

Ausgangspunkt ihrer Ausstellung „Das Reich“ im Belvedere 21 ist das Jahr 1990: Die Reichsbürgerbewegung erkennt die Rechtmäßigkeit der Bundesrepublik Deutschland nicht an und übernimmt nach der Wiedervereinigung kurzerhand die Kontrolle. Österreich schließt sich dem wiedererrichteten Deutschen Reich bald an. Dieses fiktive Szenario skizziert Henrike Naumann in einer immersiven Rauminstallation aus Möbeln, Wohnaccessoires, Dekoelementen und Videos. Die Reichs(bürger)kanzlei, inszeniert als germanisches Stonehenge, trifft hier auf Homevideos des Nationalsozialistischen Untergrunds und von Feiernden auf Ibiza, ein 1990er-Jahre Möbelhaus und allerlei Finca-Chic. Die Ausstellung lässt sich als Psychogramm einer alternativen Weltanschauung lesen, die dem realen Gedankenkosmos heutiger rechtsextremer Strömungen bedrohlich ähnelt.

 

„Anschluss ’90“

 

Henrike Naumann entwickelt mit ihrer begehbaren Installation ein fiktives Szenario, in dem 1990 die Reichsbürger die Kontrolle über das wiedervereinte Deutschland übernehmen und Österreich sich kurz entschlossen dem wiedererrichteten Deutschen Reich anschließt. Das neu erwachte völkische Zusammengehörigkeitsgefühl wird euphorisch gefeiert, was sich aber nicht in Massenaufmärschen wie 1938 äußert, sondern in einer überschwänglichen Konsumkultur zum Ausdruck kommt. „Ich kaufe ein, also bin ich!“, lautet das Motto, das die Kraft zur Herausbildung eines neuen Germanentums aus dem totalen Kaufrausch schöpft. Denn so wie in Ostdeutschland schießen auch in Österreich die Möbelhäuser aus dem Boden. Anstatt „nur zu wohnen“, lebt man das Deutschtum als hedonistischen Lifestyle, der in Produktform erworben werden kann.
Mit ihrer Installation „Anschluss ’90“, die 2018 erstmals im Rahmen des Festivals für zeitgenössische Kunst „steirischer herbst“ zu sehen war, inszeniert Henrike Naumann die Ausstellungsfläche eines Möbelhauses, das kurz nach dem hypothetischen Wiederanschluss 1990 eröffnet. Möbel, Einrichtungsgegenstände, Bücher und Dekoelemente verschmelzen darin zum Spiegelbild einer Gesellschaft, die eine auf Deutschnationalismus und Konsum gründende Identität auch in ihrem Wohnraum zum Ausdruck bringen will. In Henrike Naumanns alternativem Geschichtsszenario werden die Brüche deutlich, die eine vernachlässigte Aufarbeitung der deutschösterreichischen Geschichte hinterlassen hat und die rechtspopulistischer bis -radikaler Politik heute einen Nährboden liefern.

 

„Terror“

 

Das Video ist das Gegenstück zum ebenfalls 2012 entstandenen „Amnesia“. Während sich darin Jugendliche auf Ibiza vergnügen, spielt „Terror“ in Jena. Zwei junge Männer und eine junge Frau erleben hier 1992 ihren, so Henrike Naumann, „letzten Sommer der Unschuld“, bevor sie sich endgültig radikalisieren. Mit den Namen der Protagonisten, Beate, Böhni und Uwe, verweist Naumann auf Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos – das Trio, das als „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) ab 1999 rechtsterroristische Anschläge und Morde verübte.
Terror beginnt mit einer Szene, in der die drei eine VHS-Videokamera stehlen. Fortan dokumentieren sie damit ihren Alltag: Im Neonazi-Jugendzimmer zwischen Reichsflagge, Kuscheltieren und Alf-Grußkarte vertreiben sie sich die Zeit mit der Lektüre der Jugendzeitschrift „Bravo“, eines Artikels über die Gefahren von Ecstasy und Blödeleien. Beate boxt auf ein Sofa ein, während die anderen sie dabei anfeuern. Uwe posiert für die Kamera und schreit „Sieg Heil!“, während er den rechten Arm einer Pink-Panther-Plüschfigur immer wieder in die Höhe reißt. Schließlich zeigt das Video den Einbruch des Trios in eine aufgelassene Schule. Unfähig, ihre Zuneigung zu artikulieren, suchen sie untereinander Körperkontakt in einer Rauferei, bevor sie anfangen, wahllos Dinge zu zerstören („88, jetzt geht’s los!“). In der letzten Szene überraschen Böhni und Uwe Beate mit vier zu einem Hakenkreuz angeordneten Pistolen.
Henrike Naumann stellt der sexuellen Selbstaufklärung der jugendlichen Protagonist_innen die Frage nach der Eigenverantwortung zur politischen Bildung gegenüber. In ihrem Video spürt die Künstlerin der Banalität des Bösen nach, indem sie eine Selbstinszenierung im VHS-Look vortäuscht und dadurch Momente einer schleichenden Rechtsradikalisierung greifbar macht.

 

„Amnesia“

 

Im Unterschied zu „Terror“ spielt „Amnesia“ im Jahr 1992 auf der spanischen Insel Ibiza. Der Kreis der Protagonist_innen ist hier um einen jungen Mann erweitert. Neben Bianca, Sven und Dave übernimmt Mike allerdings nur die passive Rolle des Filmers. Die Jugendlichen beziehen ihr Hotelzimmer. Um einen Tisch versammelt wird dann geraucht und über die Strapazen der Anreise gesprochen. Feierlaune kommt auf: Die Jugendlichen grölen „Ibiza 92“, blödeln, trinken Hochprozentiges, rauchen, knutschen, koksen, stylen sich und wechseln in das „Amnesia“, Ibizas angesagtesten Klub. Zu elektronischen Beats tanzt, raucht und trinkt dort jede_r für sich. Bianca verliert Sven und Dave aus den Augen und findet die beiden eng umschlungen und sich küssend wieder. Sie kehrt auf die Tanzfläche zurück und verliert sich unter dem Einfluss von Drogen in ihren Bewegungen zur Musik. Im leeren Klub wirft sie dann eine Vase auf eine Glaspyramide, in der sie sich vorher noch selbst beobachtet hat.
Zwischen den Videoarbeiten „Terror“ und „Amnesia“ gibt es mehrere Parallelen. Dazu zählen das Motiv der Zerstörung der eigenen Reflexion wie auch Aggression und Exzess aus Langeweile. Die Jugendlichen ähneln sich auch im Extremismus, den sie im Zuge einer Identitätsfindung entwickeln. Auf Ibiza suchen sie das Heil im Rausch und im Vergessen, in der Auflösung des alten Ichs durch eine Öffnung zum Neuen – im Gegensatz zum Anknüpfen an eine völkische Identität, die in Jena in der Vergangenheit gesucht wird. „Ich gehe der Frage nach, wo die Unschuld von drei jungen Neonazis aufhört – und die Verantwortung von unpolitischen Hedonisten anfängt“, meint Naumann zu ihren Videoarbeiten. Und auch heute kann die Kombination aus Ibiza und Feiern schnell zu Fragen nach politischer Verantwortung führen.

 

„Das Reich“

 

Zum ersten Mal wurde Henrike Naumanns raumgreifende Installation „Das Reich“ im Bankettsaal des Kronprinzenpalais in Berlin präsentiert. Es ist ein symbolhafter Ort, an dem 1990 der Einigungsvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland (BRD) und der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) über die Auflösung der DDR, ihren Beitritt zur BRD und die deutsche Einheit unterzeichnet wurde. Aber nicht alle sind mit dieser Art der Wiedervereinigung einverstanden: Die Reichsbürger erkennen die Rechtmäßigkeit der Bundesrepublik Deutschland nicht an und beharren auf einem Fortbestehen des Deutschen Reichs. In ihren Augen ist dem „Deutschen Volk“ Unrecht widerfahren: Sie sehen sich als bedrohtes indigenes Volk in einem besetzten Land und bitten die Vereinten Nationen um Unterstützung gegen Völkerrechtsverletzungen. Sie horten Waffen und Munition für den Tag X, wenn der Endkampf kommt und das Deutsche Reich wiederauferstehen wird.
Naumann entwirft mit „Das Reich“ das Bild einer Dystopie, in der die Reichsbürger 1990 tatsächlich die Regierungsgeschäfte übernommen haben. Innerhalb dieses Szenarios wird das begehbare Ensemble aus Schrankwänden, Regalen und Vitrinen in Stonehenge-Anordnung im Andenken an die frühen Jahre des Vierten Reichs gemeinsam mit Memorabilien des Wiederanschlusses Österreichs von 1990 ausgestellt. Naumann inszeniert mit „Das Reich“ die kommissarische Reichs(-bürger-)kanzlei als völkische Kultstätte. In diesem Denkmal des Germanentums verbinden sich nationalistische Verschwörungstheorien mit persönlichen Schicksalen sowie mit den Brüchen der deutschen Geschichte.

 

Henrike Naumann wurde 1984 in Zwickau geboren, sie lebt und arbeitet in Berlin. Zuletzt waren ihre Arbeiten unter anderem im Kunstverein Hannover, bei KOW, Berlin, im Museum Abteiberg, Mönchengladbach, im MMK, Frankfurt am Main, im Rahmen von steirischer herbst, Graz, bei der Busan Biennale, bei der Ghetto Biennale, Port-au-Prince, und im Musée d’Art Contemporain et Multimédia, Kinshasa, ausgestellt.