Sonntag, 01 Juli 2018 12:39

»Spiegelnde Fenster – Reflexionen von Welt und Selbst«

 

Marc Adrian, Martin Arnold, Vittorio Brodmann, Georg Chaimowicz, Adriana Czernin, Josef Dabernig, Gunter Damisch, VALIE EXPORT, Judith Fegerl, Michael Franz / Nadim Vardag, Padhi Frieberger, Bernhard Frue, Walter Gamerith, Bruno Gironcoli, Samara Golden, Judith Hopf, Alfred Hrdlicka, Iman Issa, Martha Jungwirth, Jesper Just, Tillman Kaiser, Johanna Kandl, Joseph Kosuth, Susanne Kriemann, Friedl Kubelka / Peter Weibel, Luiza Margan, Till Megerle, Henri Michaux, Muntean Rosenblum, Walter Pichler, Tobias Pils, Arnulf Rainer, Ugo Rondinone, Isa Rosenberger, Gerhard Rühm, Markus Schinwald, Toni Schmale, Anne Schneider, Richard Teschner, Simon Wachsmuth, Rudolf Wacker, Anna Witt; kuratiert von Severin Dünser und Luisa Ziaja

 

21er Haus, Wien

22. Juni 2017 – 14. Jänner 2018

 

Am Anfang jeder thematischen Gruppenausstellung steht die raumzeitliche Differenz ihrer Teile, entstammen diese doch jeweils spezifischen Kontexten, die in ihrer ästhetischen Erscheinung mehr oder weniger explizit werden. Im Aufeinandertreffen dieser Teile und insbesondere in konkreten Konstellationen einzelner Arbeiten werden diskrete Verbindungen zwischen ihnen wahrnehmbar, entstehen oder verstärken sich Sinnzusammenhänge oder ergeben sich auch Widersprüche. Diese bedeutungsgenerierenden Effekte des Mediums Ausstellung machen sie zu einem Raum der Verhandlung, in dem wir als Betrachterinnen und Betrachter immer wieder neu die dargebotenen visuellen und narrativen Stränge aufnehmen, weiterspinnen, fallen lassen oder an anderer Stelle verknüpfen.
Unsere kuratorische Auswahl und Kombination von Arbeiten aus dem Sammlungsbestand des Belvedere und der Artothek des Bundes ist angetrieben von der Frage nach einer Relevanz im Hier und Jetzt im Hinblick auf das im Titel »Spiegelnde Fenster – Reflexionen von Welt und Selbst« angesprochene Spannungsfeld: Fenster markieren die Schwelle zwischen privat und öffentlich, sie sind Öffnungen, die von innen den Blick auf das Außen einrahmen, während wir uns von draußen in ihnen spiegeln. Beide Motive – der Spiegel wie auch das Fenster – sind bekannte Metaphern für die Erkenntnis der Welt und die Erkenntnis des Selbst in der bildenden Kunst. Dieser Sicht auf das Innere, das Äußere und deren Wechselwirkungen geht die Präsentation nach.
Den Auftakt bilden Arbeiten, die im weitesten Sinne die Artikulationsfähigkeit des Subjekts angesichts einer krisenhaften Gegenwart zum Thema haben. So beleuchtet Joseph Kosuth buchstäblich eine Textpassage aus Sigmunds Freuds »Psychopathologie des Alltagslebens« zu sprachlichen Fehlleistungen in Kriegszeiten, während Muntean Rosenblum die Szene des gewaltsamen Aufeinandertreffens von Demonstrierenden und Polizei mit der Dissonanz persönlichen Erinnerns und offizieller Geschichtsschreibung verknüpfen und Anna Witt mit ihrer Videoinstallation zum »Radikal Denken« und Entwerfen einer anderen Wirklichkeit anregt.
Von der Präsenz des Körpers in seiner Absenz erzählen die Fotografien von Bernhard Frue und Nadim Vardag: Frues Negativprint »Samthansen« verdeutlicht, wie sich die Schattenökonomie der Sexarbeit mittels improvisierter Blickbarrieren in einen öffentlichen Park einschreibt; Vardag hingegen macht durch die Verfremdung eines ikonischen Bildes Mechanismen der Fetischisierung sichtbar. Um die Inszenierung von Begehren im Mainstreamkino und deren Brechung kreist »A Vicious Undertow« von Jesper Just; Luiza Margan wiederum nimmt anhand einer von Paaren im öffentlichen Raum ausgeführten Geste traditionelle Geschlechterverhältnisse in den Blick, während VALIE EXPORT die Normierung des weiblichen Körpers in ein Verhältnis zu urbaner Architektur setzt. Mit anthropomorphen Qualitäten auf ganz unterschiedlichen Ebenen operieren Anne Schneider und Judith Hopf: Schneiders »Bodyguards« behaupten sich zwischen Figuration und Abstraktion oszillierend in ihrer Materialität und Farbigkeit, während Hopfs wartender, scheinbar dauerbereiter Laptop als quasianimiertes Ding auf das burnoutgeplagte Individuum verweist. Und Till Megerles menschlicher Schubkarren zeugt von einem Spiel mit Macht und Unterwerfung, das Körper und Psyche gleichermaßen betrifft.
Zeichnungen von Megerle finden sich auch in der folgenden Konstellation, die sich Phänomenen des Spirituellen widmet und nach der gegenwärtigen Bedeutung religiöser Motive fragt. Die Zeichnungen von Eselköpfen beziehen sich auf Georges Bataille, der diese als »virulenteste Manifestation« des niederen Materialismus im Sinne der Gnostiker interpretierte. Marc Adrian wiederum zitiert Goethes ungeheuren Spruch »Niemand gegen Gott außer Gott selbst« und setzt ihn mit seiner Darstellung eines heidnischen Götzenbildes in einen polytheistischen Kontext. Adriana Czernins abstrakte Zeichnungen verweisen unverkennbar auf islamische Ornamentik, brechen aber gleichzeitig auch metaphorisch deren Symmetrie, während Simon Wachsmuths Video iranische Männer bei Leibesübungen zeigt, die auf ein klandestines Kampftraining zurückgehen, das über die Jahrhunderte ritualisiert und mit spirituellen Inhalten angereichert wurde.
Körperliche Rituale als Ausdruck der Bewältigung sozialer, ökonomischer und politischer Eskalationen kommen in den Arbeiten von Walther Gamerith, Isa Rosenberger und Alfred Hrdlicka zur Darstellung. So zeugt Gameriths »Tanz der Krüppel« vom Elend der Kriegsversehrten, die dem Trommelschlag des personifizierten Todes zu folgen haben; der wiederum in Rosenbergers Videoarbeit »Espiral« einen Auftritt im überzeitlichen Motiv des Totentanzes hat und in ein dichtes Gefüge von Referenzen und Kontinuitäten zur ersten Weltwirtschaftkrise verwebt ist. »Bal des victimes« von Hrdlicka wiederum verarbeitet das Phänomen der als kathartisch beschriebenen Bälle, die Überlebende der Terrorherrschaft während der Französischen Revolution im Gedenken an ihre guillotinierten Angehörigen veranstaltet haben sollen. Iman Issas Installation hingegen bringt ein assoziationsreiches Gedankenspiel darüber in Gang, ob wir eine vergangene Ära des Luxus und der Dekadenz mit Melancholie oder Revolution verbinden. Und Johanna Kandls Gemälde befasst sich mit ökonomischen Randzonen und der Prekarität des Alltags in vom Turbokapitalismus gebeutelten Gesellschaften.
Natur und ihre physikalischen Gesetze stehen im inhaltlichen Zentrum eines weiteren Raumes. Als Metaphern für die Gesellschaft oder den Körper werden hier Analogien aufbereitet, aus denen Rückschlüsse gezogen und an die Betrachterinnen und Betrachter weitergereicht werden. So setzt etwa Peter Weibel etwa seinen Aufruf »Mehr Wärme unter die Menschen« buchstäblich um. Susanne Kriemann porträtiert in ihrer Arbeit einen roten Granitmonolithen und damit auch den Künstler Robert Smithson, an dessen Todesort der Stein aufgestellt wurde. Judith Fegerls Werk verbindet mittels Löten Kupferdrahtstücke zu einer fragilen Installation, die physikalische und physische Eigenschaften in Relation zueinander stellt. Und der Film »Entropie« von Michael Franz und Nadim Vardag schließlich beschreibt anhand physikalischer Gesetze eine Atmosphäre im Kulturbetrieb, in der die langsame Sinnentleerung und damit der Stillstand droht.
Einer bewussten, paradox positiven Sinnentleerung scheinen sich die Protagonistinnen und Protagonisten des »Hotel Roccalba« von Josef Dabernig hinzugeben, wenn sie kollektiv vereinzelt Tätigkeiten nachgehen und letztlich nichts geschieht. Von der Steigerung dieses Moments der Banalität, das ins Unheimliche kippt oder im Grauen des Alltags kulminiert, zeugen Arbeiten wie Markus Schinwalds lebensgroße Puppe »Betty«, die apathisch – wie fremdgesteuert – auf einem Stuhl hin und her wippt, und Samara Goldens Fotografie »Mass Murder, Blue Room«, die einen halluzinatorischen Raum, in dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ineinander verschränkt sind, als potenziellen Tatort inszeniert. In Walter Pichlers Zeichnung »Schlafender« wird die Ruheposition zur existenzialistischen Handlung und mit Krankheit und Tod assoziiert, während Martin Arnolds Video »Passage à l’acte« die psychische Anspannung und latente Aggression im Idyll einer Familienszene freilegt und Tillman Kaisers irritierende Wandtapete »Habitación retorcida« die aufgeladene Beziehung zwischen Mutter und Kind räumlich übersetzt.
Diese Arbeit ist mit einer weiteren Konstellation verschränkt, in der sich alles um das Selbst dreht: Ugo Rondinones Protagonist in »Cigarettesandwich« flaniert in einem Loop eine Wand entlang – die Bewegung wird durch die Wiederholung zu einer meditativen, der Zeit enthobenen Rotation um sich selbst; Produkt einer Selbstreflexion ist auch die Zeichnung »Ich – Irgendwo da drinnen eingebettet (Oder dort draußen)« von Gerhard Rühm, in der der Künstler das Wort »Ich« mit kreisenden Gesten unzählige Male übereinandergeschrieben hat; Adriana Czernin dagegen übersetzt in ihrem Selbstporträt innere Vorgänge in ein Zusammenspiel zwischen Figuration und Abstraktion.
Selbsterfahrungen und das Erforschen der eigenen Psyche wie auch das betont antirationalistische Erschaffen individueller, surrealer Bildwelten einen eine ganze Reihe von Arbeiten. So zeigt das »Selbstbildnis« von Georg Chaimowicz den Kopf des Künstlers in Auflösung und zeugt von der existenziellen Identitätssuche nach der Shoah. Martha Jungwirths fantastisches »Käferwesen« geht aus einer Verbindung von unbewussten Gesten mit bewussten Erfahrungen hervor, während Richard Teschners »Platzregen« die Naturgewalt personifiziert und sie als monsterhaftes Wesen darstellt. Vittorio Brodmann hingegen schafft mit seinen comichaften anthropomorphen Figuren intensive visuelle Gefühlswelten, ebenso wie Gunter Damisch, dessen Komposition einem eigenen Kosmos jenseits des kollektiven Wirklichkeitsverständnisses entspringt. Der Ästhetik der Neuen Sachlichkeit ist hingegen Rudolf Wackers Stillleben »Zwei Köpfe« verpflichtet, das vom projektionsreichen Zusammenspiel seiner Bildelemente lebt. Henri Michaux’ écriture automatique oszilliert zwischen Malerei und Dichtung, Figur und Schrift und ist scheinbar direkt aus dem Unbewussten aufs Papier übertragen. »Umgang mit kleinen Mengen« von Tillman Kaiser regt die Fantasie eines substanzunterstützten Trips durch das All an, und Padhi Frieberger setzt mit seinem »Schweinealtar« einer fiktiven Religion ein Denkmal, während er die abgöttische Verehrung von Dingen in unserer Welt persifliert.
Bruno Gironcolis raumgreifende Skulptur »Mütterliches, Väterliches« repräsentiert wiederum ein verrätseltes Formen- und Symboluniversum, das die menschliche Existenz in Physis und Psyche zu adressieren scheint. Das Ineinandergreifen von Innen- und Außenwelt liegt auch den Arbeiten von Tobias Pils und Toni Schmale zugrunde: Pils’ genuines formales Vokabular hält seine Werke in einer Schwebe zwischen Realitätsbezug und mentaler Imagination, während sich Schmales Nitrofrottagen auf Beton in einer Destabilisierung konventioneller Deutungsmuster üben und skizzieren, wie sich Begehren in Objekte übersetzen lässt.
Mit diesem Erzählbild der Ausstellung versuchen wir, das Zusammenspiel der gezeigten Arbeiten knapp zu umreißen, im Bewusstsein, dass es vielschichtiger und komplexer, mitunter auch brüchiger ist. Es soll als Anstoß dienen für neue, subjektive Assoziationen und Narrative, die andere Fäden miteinander verknüpfen, als wir es hier tun. Als Summe ihrer Teile macht die Ausstellung das heutige Spannungsfeld zwischen Individuum und Gesellschaft erfahrbar und reflektiert – ganz im Sinne der spiegelnden Fenster – zugleich Auswirkungen auf Körper und Geist.

 

Katalog zur Ausstellung:
Spiegelnde Fenster – Reflexionen von Welt und Selbst
Herausgegeben von Stella Rollig, Severin Dünser und Luisa Ziaja
Mit Texten von Véronique Abpurg, Severin Dünser, Alexander Klee, Michaela Köppl, Naima Wieltschnig, Claudia Slanar und Luisa Ziaja über Arbeiten von Marc Adrian, Martin Arnold, Vittorio Brodmann, Georg Chaimowicz, Adriana Czernin, Josef Dabernig, Gunter Damisch, VALIE EXPORT, Judith Fegerl, Michael Franz / Nadim Vardag, Padhi Frieberger, Bernhard Frue, Walter Gamerith, Bruno Gironcoli, Samara Golden, Judith Hopf, Alfred Hrdlicka, Iman Issa, Martha Jungwirth, Jesper Just, Tillman Kaiser, Johanna Kandl, Joseph Kosuth, Susanne Kriemann, Friedl Kubelka/Peter Weibel, Luiza Margan, Till Megerle, Henri Michaux, Muntean Rosenblum, Walter Pichler, Tobias Pils, Arnulf Rainer, Ugo Rondinone, Isa Rosenberger, Gerhard Rühm, Markus Schinwald, Toni Schmale, Anne Schneider, Richard Teschner, Simon Wachsmuth, Rudolf Wacker und Anna Witt
Grafikdesign von Atelier Liska Wesle, Wien/Berlin
Deutsch/Englisch
Softcover, 19 × 24 cm, 136 Seiten, zahlreiche Abbildungen in Farbe
Belvedere Wien, 2017
ISBN 978-3-903114-36-4

Freigegeben in Ausstellungsdetails
Montag, 20 Juni 2016 17:00

Till Megerle

»Donkeys«

 

21er Raum im 21er Haus, Wien

29. Oktober — 29. November 2015

 

Als Künstler geht es erst einmal darum, Möglichkeiten zu finden, um zu kommunizieren. Zeichnungen befinden sich außerhalb eines Repräsentationsdiskurses und bieten so ein hohes Maß an künstlerischer Freiheit, das auch in den niedrigschwelligen Produktionsbedingungen begründet ist: Zeichnen ist praktisch, billig und eigentlich immer und überall machbar. Zeichnungen unterstellt man deshalb gern eine gewisse Unmittelbarkeit, und man neigt dazu, sie zu psychologisieren. Till Megerles Arbeiten auf Papier scheinen diese Projektionen aber nicht einzulösen.
Das Medium ermöglicht, sich Vokabulare zu erarbeiten, um dann auf verschiedene Arten zu formulieren. Die Gesten, die dabei entstehen, verwendet Till Megerle wie einzelne Zeichen bzw. Buchstaben, die, immer wieder neu zusammengesetzt, Konstruktionen ergeben, die man „lesen“ kann. Das Interpretieren hintertreibt er allerdings, indem er Stile wie Worthülsen verwendet und von Zeichnung zu Zeichnung austauscht. Unsere Rezeption wird in ein Versteckspiel verwickelt zwischen dem, was wir sehen, und dem, was wir darauf projizieren. Und sie wird ins Schwanken gebracht mit einer Gleichzeitigkeit von Nähe und Distanz. In der Frühromantik schrieb Friedrich Schlegel: „In jedem guten Gedicht muss alles Absicht, und alles Instinkt sein. Dadurch wird es idealisch.“ Reflexion und Intuition, also Geist und Bauch, Distanz und Nähe, verbindet Megerle dann auch in seiner zeichnerischen Praxis, um Intensitäten hervorzubringen.
Um eine Gleichzeitigkeit innerhalb eines Dualismus geht es auch bei den Gnostikern. Zwischen 200 vor und 300 nach Beginn unserer Zeitrechnung basierten verschiedene gnostische Lehren auf dem Glauben an eine grundsätzlich böse, materielle Welt (der Mensch samt Körper und Geist mit eingeschlossen) im Gegensatz zu einem guten, allumfassenden Gott. Da der aber teilnahmslos ist, werden böse Götter angebetet. „So scheint mir die Anbetung eines Gottes mit Eselskopf (da der Esel das abscheulich-komischste, aber zugleich das menschlich-virilste Tier ist) noch heute imstande zu sein, eine ganz kapitale Bedeutung anzunehmen, und der abgeschnittene Eselskopf der azephalischen Verkörperung der Sonne stellt, so unvollkommen sie auch sei, gewiss eine der virulentesten Manifestationen des Materialismus dar“, schreibt Georges Bataille 1930 in seinem Aufsatz „Der niedere Materialismus und die Gnosis“.
Till Megerle eignet sich für seine Zeichenserie das Motiv des Eselskopfes an. Er übernimmt den Sujetkomplex als ein Stimmungsbild, das er interessant findet – es geht also um Bataille als Popmotiv und nicht um Neosurrealismus. Wie Bataille anmerkt, bietet der Esel einiges Identifikationspotenzial. Während das Pferd ein Schönheitsideal verkörpert, ist der Esel dessen mit minderen Qualitäten versehener Bruder. Das Pferd steht für Hochkultur, der Esel für den Zirkus: Er birgt ein Moment der Subversion in sich, ist Manifestation des entfesselten, dunklen Materiellen.
Die meisten Esel hat der Künstler in karikaturhafter Manier gezeichnet. Die Idee der Karikatur hatte für Megerle immer einen besonderen Reiz, da man dabei versuche, nicht authentisch zu sein, sondern über eine künstlerische Form über Sachen zu sprechen. Karikatur an sich ist kein Ausdrucksstil, sondern ein artifizieller Stil mit einer gewissen Distanz zur Realität und erleichtert so das In-Spannung-Bringen von Reflexion und Intuition. So verwundert es nicht, dass Megerle in einer anderen Serie auf das Karikaturrepertoire des 19. Jahrhunderts zurückgreift, etwa auf Wilhelm Busch. Dessen Werke kann man als lustige Geschichten lesen, aber auch als Illustrationen von Arthur Schopenhauers Ideen. Schopenhauers Philosophie kreist u. a. um den Willen, dessen stärkster Ausdruck der nicht dauerhaft zu befriedigende Geschlechtstrieb sei.
Und hier kommen wir langsam zum Kern der Arbeiten von Till Megerle, seien sie nun fotografisch oder zeichnerisch. Nicht nur bei den Eselsköpfen geht es um Körperlichkeiten, besser gesagt um Körperkomplikationen, um die Physis in ungünstiger oder unsouveräner Situation. In einer täglichen Praxis subsummiert Megerle einzelne Gesten zu sorgfältigen Gefügen. Die entstandenen Konstruktionen werden in Zweifel gezogen und auf wenige Blätter reduziert. Dieses Destillat ist lapidar, aber hält mit wenigen Strichen einen Diskursraum rund um Körperpolitiken, Sexualität und zwischenmenschliche Machtverhältnisse intakt, der zwischen den Zeichen zum Vorschein kommt.

Till Megerle wurde 1979 geboren und lebt in Wien und Berlin. Seine Arbeiten waren zuletzt u.a. bei William Arnold, New York (2015), im Kunstverein Freiburg (2015), bei Christian Andersen, Kopenhagen (2014), der Galerie Micky Schubert, Berlin (2014), bei Diana Lambert, Wien (2013) und bei Center, Berlin (2012) zu sehen.

 

Katalog zur Ausstellung:
21er Raum 2012 – 2016
Herausgegeben von Agnes Husslein-Arco und Severin Dünser
Mit Texten von Severin Dünser, Simon Dybbroe Møller, Paul Feigelfeld, Agnes Husslein-Arco, Lili Reynaud-Dewar und Luisa Ziaja über Ausstellungen von Anna-Sophie Berger, Andy Boot, Vittorio Brodmann, Andy Coolquitt, Simon Dybbroe Møller, Iman Issa, Barbara Kapusta, Susanne Kriemann, Adriana Lara, Till Megerle, Adrien Missika, Noële Ody, Sarah Ortmeyer, Mathias Pöschl, Rosa Rendl, Lili Reynaud-Dewar, Anja Ronacher, Constanze Schweiger, Zin Taylor, Philipp Timischl, Rita Vitorelli und Salvatore Viviano
Grafikdesign von Atelier Liska Wesle, Wien/Berlin
Deutsch/Englisch
Softcover, 21 × 29,7 cm, 272 Seiten, zahlreiche Abbildungen in Farbe
Belvedere, Wien, 2016
ISBN 978-3-903114-18-0

Freigegeben in Ausstellungsdetails